FILMKRITIK: „POOR THINGS“ (Komödie/Drama/Fantasy - 2023)



Nach 141 Minuten Poor Things-Skurrilitäten frage ich mich ernsthaft: Wo ist das bahnbrechende, alles verändernde Kinoerlebnis? Wo ist das in den Sitz fesselnde Entertainment? Wo ist Lanthimos‘ Witz? Sein Charme? Wo ist all die ganze Subtilität abgeblieben? Und: Wo zur Hölle ist das angekündigte Meisterwerk? Sein Opus Magnum? Ernsthaft: Ich kann es euch nicht sagen, weil ich es schlicht und einfach nicht gefunden habe.


Zwei Dinge stehen allerdings außer Frage: Emma Stones Performance ist f*ck’in atemberaubend. Wie detailreich und hingebungsvoll sie Bella in all ihren Entwicklungsphasen verkörpert, ist eine richtige Augenweide. Noch dazu, sich so nackt, so rein, fast schon pornografisch zu präsentieren, während die Kamera voll draufhält: alle Achtung! Und: „Poor Things“ sieht in jeder noch so kleinen, fein konzipierten Einstellung, „Leck-mich-am-Arsch-geil-aus“, da gibt es überhaupt keinen Raum für Diskussionen. (Okay, über den häufigen Einsatz der Fisheye-Perspektive lässt sich streiten.) Die Set-Designs sind im Steampunk-Style gehalten, prunkvoll, prächtig, auffällig, extrovertiert. Die Farbgestaltung ist eine absolute Wucht, die Kamera ein Träumchen, die Kostüme sensationell, kurz: Lanthimos‘ sogenanntes World-Building sucht seinesgleichen. Auch das Sounddesign muss unbedingt hervorgehoben werden, denn ich persönlich habe so etwas bislang noch nicht gehört. (Immer wieder diese schrillen, unorthodoxen Hochfrequenz-Töne, die überhaupt nicht eindringlich sind, aber dennoch einen bleibenden Eindruck hinterlassen.)


ABER: Meine überschwängliche Begeisterung hält sich in Grenzen, denn Lanthimos erzählt die Reise von Bella Baxter viel zu detailorientiert, zu fabulierend, und trotzdem nicht fließend genug, schweift immer wieder ab, produziert Zeitsprünge, die nicht nötig gewesen wären, sodass spätestens nach dem ersten - wirklich starken - Drittel, die Qualität der Handlung extrem abflacht und sich somit das Tempo reduziert. Und das ist so verdammt schade. Die technischen/stilistischen/erzählerischen Voraussetzungen liegen allesamt auf dem Silbertablett, Lanthimos hätte lediglich danach greifen müssen, hat es aber über die gesamte Laufzeit nicht geschafft, das Niveau seines Mitteilungsbedürfnisses, konstant hochzuhalten, weshalb man - vor allem im Mittelstück -, immer wieder mit unnötigen Längen zu kämpfen hat.


So. Jetzt kommen wir zum Kern der Handlung: Der Entwicklung, Selbstverwirklichung und Emanzipation von Lanthimos’ Protagonistin Bella Baxter. Genau darin liegt für mich das eigentliche Übel des Konzeptes, denn Yorgos Lanthimos (über)sexualisiert Bella von der ersten bis zur letzten Sekunde und macht sie somit zum absoluten, zentralen Lustobjekt, aus dessen „Kokon“ sie sich zweieinhalb Stunden lang befreien muss. Ja, sie lernt selbstverständlich auch aus einer Eigeninitiative heraus, ihren Körper kennen, probiert sich aus, LEBT sich vor allem aus, versucht auf unbekanntem Terrain zu wandeln und auf ihre eigenen Bedürfnisse einzugehen (mit all den Niederschlägen), aber das wird meiner Meinung nach stiefmütterlich behandelt. Mir missfällt der Sachverhalt nicht deshalb, weil er sie permanent nackt zeigt, keinesfalls, auch nicht, weil er dem Publikum ihre sexuellen Erfahrungen explizit vor die Nase hält, sondern weil er sie als unerfahrenes, kleinkindliches Freiwild präsentiert. UND DAS SCHMECKT MIR GAR NICHT!


Außerdem schanzt er dem weiblichen Geschlecht lediglich zwei ganz eindeutige Funktionen zu: Kinder zu gebären und dafür zu sorgen, sich in Gehorsam zu üben. An dieser Tatsache kann auch die mit der Brechstange herbeigeführte überemanzipierte letzte Viertelstunde nichts mehr ausrichten.


Die Grundessenz von Poor Things lautet folgendermaßen: Männer sind verabscheuungswürdige, triebgesteuerte, geldgierige, besitzergreifende Wildtiere, die nichts anderes im Sinn haben, als ihre patriarchalischen Machtpositionen dafür zu nutzen, Frauen mundtot und gefügig zu machen, um sie schlussendlich in die Kiste zu kriegen. Und Frauen sind Kollateralschäden, die da ganz einfach mitzuspielen haben. Bella befreit sich zwar aus dieser Misere, aber sorry Yorgi, das ist mir zu plakativ, zu sehr mit der Brechstange hantiert, das hätte man auch irgendwie „besser“ verpacken können. Warum hat „Poor Things“ dennoch 8 Punkte verdient? Weil er technisch einfach nahezu perfekt ist, weil Emma Stone zum Niederknien stark aufspielt, weil Mark Ruffalo mit herausragender Leistung glänzt, weil dieser Film - bis zur absoluten Virtuosität - unfassbar ästhetisch ist, weil das Drehbuch und die darin enthaltenen Dialoge nicht von dieser Welt sind und - nicht zuletzt - weil das ganze Ding einem expressionistischen Gemälde gleicht. Da sehe ich über die völlig verkorkste Übermittlung der Botschaft gerne hinweg.


Inhaltsangabe:


Eine junge Frau namens Bella Baxter (Emma Stone) wird von dem unkonventionellen Wissenschaftler Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe) zurück ins Leben gebracht. Unter Führung des brillanten Wissenschaftlers begibt sich Bella auf eine Reise zu sich selbst, immer auf der Suche nach der Lebenserfahrung, die ihr bisher fehlt. Sie trifft dabei unter anderem auf Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo), einen Anwalt, der ihr die Welt jenseits der Wissenschaft zeigt und mit ihr ein wildes Abenteuer über mehrere Kontinente hinweg erlebt. Aber auch Baxters Student Max McCandless (Ramy Youssef) Leben ändern sich plötzlich, als er auf Bella trifft und von ihr regelrecht mit- und aus seinem behüteten Leben herausgerissen wird. Bella entdeckt Stück für Stück ihre Leidenschaft für soziale Gerechtigkeit und Befreiung und kann sich so auch ihrer eigenen Zwänge entledigen, Vorurteile hinter sich lassen und sich immer und immer mehr ausleben.

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