Rezension: "Sekunden der Gnade“ von Dennis Lehane

Kurzer Flashback: Wir haben es Dennis Lehane zu verdanken, dass wir Leonardo DiCaprio 2010 in „Shutter Island“ (Martin Scorsese) über die Kinoleinwand brillieren sahen durften und Sean Penn hätte im Jahr 2004 - höchstwahrscheinlich - keinen Oscar/Golden Globe Award bekommen, hätte Lehane nicht die großartige Vorlage dazu geliefert. (Mystic River - Clint Eastwood). Vor allem aber in schriftstellerischer Hinsicht hat er echt Großes geleistet und Handlungen/Figuren konzipiert, die ein klein wenig Kultstatus genießen.

Nun ist es, seit der deutschen Erstveröffentlichung seines Stand-Alone-Krimis „Der Abgrund in dir“ (2018) und den einhergehenden mittelmäßigen Leser-Kritiken, ganz schön ruhig um Dennis Lehane geworden. Why? Schaffenskrise? Tank auffüllen? Kommt da überhaupt noch etwas? Oder wird die Karriere eingestampft?


2022 dann die Entwarnung: Ein neuer Krimi steht in den Startlöchern: „Sekunden der Gnade“. Nachdem zwischen den beiden letzten Romanen einige Jahre liegen, war meine Erwartungshaltung im Vorfeld - wie schon so oft - wahnsinnig hoch. Und ich muss euch sagen: Lehane hat mich mit dieser gesellschaftskritischen Handlung vollständig gekriegt. Ich bin überaus fasziniert, wie stark er darin geworden ist, seine Erzählungen aufzubauen, sie zu strukturieren, voranzutreiben und dort Figuren zu platzieren, die ohne nervige Klischees auskommen. DAS ist seine große Stärke, die er in „Sekunden der Gnade“ gnadenlos ausspielt. Hinzukommt, dass er ein unheimlich talentierter Schriftsteller ist, bei dem jedes Wort punktgenau sitzt, der IMMER auf sein Schriftbild achtet und Wert darauf legt, Belanglosigkeiten auszuklammern. All das trifft haargenau auch auf seinen neuen Roman zu: Er zeichnet dort ein unfassbar authentisches Sittenbild der späten amerikanischen 70er Jahre, mit all den grausamen (rassenfeindlichen) Facetten, pflegt einen eigenwilligen, dreckigen, meist lakonischen Sound, der den zeitlichen Rahmen perfekt umschließt, stilsicher wie eh und je. Außerdem besitzt er ein ganz besonderes Händchen dafür, einer Geschichte Leben einzuhauchen und - wie bereits oben erwähnt - Figuren voranzustellen, die einem nicht egal sind, da sie eben mit größtmöglichem Feingefühl konzipiert wurden. Doch in „Sekunden der Gnade“ geht es - neben der politischen Komponente - hauptsächlich ums Thema „Verlust“: Wie komme ich grundsätzlich mit dem Abhandenkommen von Kontrolle zurecht? Was bedeutet es für die eigene Existenz, etwas Wichtiges zu verlieren. Und: Kämpfe ich um den verloren gegangenen Menschen, oder geht es schlichtweg nur darum, das eigene schlechte Gewissen ruhig zu stellen? Es ist aber auch eine eiskalte, kompromisslose Rachestory, die Lehane uns hier auftischt, durchzogen von purem Hass und dem Verlangen, die Ordnung wiederherzustellen. ICH LIEBE SOWAS.

Alles in allem ist „Sekunden der Gnade“ ein ganz hervorragendes Zeitportrait mit einer Hauptfigur, die mir - ich weiß nicht einmal wieso - derart ans Herz gewachsen ist, obwohl sie jegliche Sympathiepunkte vermissen lässt. Irgendwie hat sie mich ganz stark an Frances McDormand in „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ erinnert. In aller Kürze: DAS ist wahrscheinlich Lehanes bestes Buch!


»Bete also heute Abend auf den Knien, George, dass mein Herz heil und gesund auftaucht, sonst kann es sein, dass ich wiederkomme und dir deins aus der dreckigen Brust reiße.«


Inhaltsangabe:


Boston, 1974. Die Stadt kocht. Künftig sollen schwarze Kinder mit Bussen in weiße Schulen gebracht werden und vice versa. Angst geht um und Hass. Eines Nachts kehrt Mary Pat Fennessys 17-jährige Tochter Jules nicht nach Hause zurück. Mary Pat beginnt Fragen zu stellen, stößt auf Schweigen und Widersprüche, bis sie versteht: Man hat ihr das Letzte genommen, was ihr in dieser Welt Halt gab. Außer sich vor Schmerz macht sie sich auf, um Rache zu nehmen an den Verantwortlichen – und um ihre eigene Schuld abzutragen. Um jeden Preis.

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