Rezension: "Westwind“ von Samantha Harvey

Ende des Spätmittelalters. Beginn der Renaissance. Gewehre und Kanonen kommen erstmalig zum Einsatz. Die Inquisition hält Einzug. Die Verfolgung von Ketzern, Häretikern, Andersgläubigen und Hexen stehen an der Tagesordnung. Jeanne d’Arc führt die französischen Truppen zu einem Sieg gegen die Engländer im Hundertjährigen Krieg. Konstantinopel fällt. Johannes Gensfleisch, alias Gutenberg erfindet den Buchdruck. Christoph Kolumbus entdeckt Amerika. Vasco da Gama erreicht Indien. Die Franzosenkrankheit und die Englische Schweißsucht lässt einen Großteil der Bevölkerung dahinsiechen. Kurzum: Das 15. Jahrhundert war ein außerordentliches, einprägsames, historisches Kapitel, das man sich heute kaum noch ausmalen kann. Es ist aber auch das Jahrhundert der grausamen Verbrechen, eine Epoche der Läuterungen, Verfolgungen, Peinigungen und Hinrichtungen.

Und obwohl die Machtstellung der Kirche - zu dieser Zeit - einen deutlichen Verlust erleiden musste, so lässt der ekelerregende Gegenschlag nicht lange auf sich warten. Worauf ich eigentlich hinauswill: Wir sprechen von einer Zeit, in der es eine Exekutive, eine Judikative nicht im herkömlichen Sinne gegeben hat, wir sprechen von einer Zeit, in der die Vertreter Gottes nicht bloß als heiliges Sprachrohr, bzw. als Auffangstation für Sünden aller Art dienten, sondern auch dafür zuständig waren, den Teufel auszugrenzen,  Nachforschungen anzustellen und - teilweise auch - über Recht und Unrecht zu sprechen. Außerdem waren jene Priester des 15. Jahrhunderts stets dafür bereit, die Kirchenmauern, bzw. die Dächer Gottes instandzuhalten, als repräsentatives Aushängeschild der Gemeinde zu dienen und den Seelsorger aller Art zu mimen, auch wenn sie sich insgeheim einen feuchten Dreck um die Gemeinschaft scherten. 

Samantha Harvey hat genau so einen Protagonisten ins Leben gerufen. Einen Sohn Gottes, der (mehr oder weniger) Narrenfreiheit genießt und dafür Sorge zu tragen hat, Ungereimtheiten so schnell wie möglich zu beseitigen. Ganz gleich, wie viele Kollateralschäden den ehrbaren Weg auch pflastern mögen. („Ein Priester ist zugleich auch Richter und Sheriff, ob er will oder nicht.“, Seite 20)


Aber nicht nur Harveys Hauptfigur macht einen verdammt ehrlichen, authentischen und nachvollziehbaren Eindruck, auch die Machtdemonstration, die der starke, fanatische Glaube (in welche Richtung sich dieser auch bewegen mag) gegenüber dem Atheisten ausstrahlt, hat die Autorin bestens in Szene gesetzt. Umrahmt wird dieser ständig präsente Religionskonflikt von einem wirklich spannenden „Kriminalfall“, der einerseits zeigt, wie lapidar und stumpfsinnig sich sie Tätersuche zur damaligen Zeit gestaltet hat (was natürlich klar ist, wenn man einen völlig ahnungslosen Priester zum selbstjustizverherrlichenden Mörderfänger avancieren lässt), aber auch wie konfus diese schwammigen, nicht vorhandenen Rechtsgrundlagen waren, die schlussendlich über Schuld und Unschuld gerichtet haben. Diese atmosphärischen Gegebenheiten, dieses abstruse Gemeinschaftsgefühl einer Gesellschaft, die sich einzig und allein über die Glaubengrundsätze definiert und lieber Gott, bzw. seinen verlängerten Arm feig um Vergebung bittet, anstatt die Dinge selbst in die Hand zu nehmen*, hat Samantha Harvey perfekt eingefangen und in einem bedrückenden Setting entladen, das vor stimmungsvollen Elementen nur so strotzt! („Hast du Angst vor Gott?„ Sie antwortete nicht. „Du solltest Angst nur vor dem haben, was nicht Gott ist“, sagte ich., Seite 34)


*Ich weiß - um ehrlich zu sein - gar nicht, was ich schlimmer finde: a) Dass Männer ihre Frauen und Kinder unterdrücken/verprügeln/vergewaltigen und hinterher mal eben locker beim Priester ums Eck ‘ne Absolution - anhand eines Vaterunsers - rausholen. Oder b) Den Dummschwäzer, der die Beichte abnimmt und jemanden von seinen Sünden befreit, auf Geheiß eines Typen, den er weder gesehen, noch gesprochen hat. Naja, da spricht wohl ganz klar der Atheist aus mir.


Auch auf inhaltlicher, stilistischer wie literarischer Ebene darf man der Autorin ein ganz, ganz großes Lob aussprechen, schließlich ist es ihr gelungen, die Charaktere PERFEKT in den Schauplatz einzupflegen, ein hervorragendes Stimmungsbild zu malen, den Unterhaltungswert der Handlung - durch eine sehr dialoglastige Ausführung - brutal nach oben zu schrauben und der Geschichte sprachlich eine gewisse Eleganz zu verliehen, die man im Genre oftmals sehr vermisst.

Es ist außerdem deutlich zu spüren, dass Samantha Harvey nicht etwa die Intention verfolgte, prompt einen Schuldigen für das Verbrechen zu finden, sondern die Ursache und die Motive der Tat, langsam und bedacht an die Oberfläche zu hieven, ganz im Stile eines „Whydunit-Krimis“.


Inhaltsangabe:


1491. In dem kleinen Dorf Oakham, ein Ort in dem es Ziegen gibt, die reicher sind als die Bewohner, bereitet man sich gerade auf die bevorstehende Fastenzeit vor, als eines Nachts ein Unglück geschieht: Thomas Newman, der wohlhabendste und einflussreichste Mann im Dorf, wurde von der tödlichen Strömung des Flusses mitgerissen. War es ein Unfall, Selbstmord oder gar Mord? Dies herauszufinden, obliegt dem örtlichen Priester John Reve, einem geduldigen Hirten seiner eigensinnigen Herde. Während sich durch die Beichten der unterschiedlichen Dorfbewohner langsam ein Porträt der Gemeinde zusammensetzt, kommen immer dunklere Geheimnisse ans Licht – und die Schuldfrage wird immer dringlicher.

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