Rezension: "Der fremde Ferdinand“ von Boehncke/Sarkowicz

Mit großer Wahrscheinlichkeit kennt ihr das nicht seltene Gefühl, wenn ihr einen ganz besonderen, Interesse weckenden Titel gefunden habt, ihn auf eure Wunschliste schreibt und das gute Stück dort so lange verweilen lässt, bis der lang ersehnte Erscheinungstag in greifbare Nähe gerückt ist, und ihr voller Erwartungen, voller Vorfreude die letzten Tage (leider) als Horrorszenario, als die reinste Tortur erleben müsst.

Kennt ihr das? Wenn ihr diesen Buchtitel erwartungsfroh, beinahe euphorisch betrachtet, euch immer wieder vor Augen führt, wie wichtig es sei, ihn so schnell wie möglich in den eigenen Hände zu halten, und euch dabei ertappt, wie ihr die Kalenderblätter völlig ungeduldigt (aber dennoch voller Sehnsucht) abreißt.

Kennt ihr diesen Augenblick, wenn man diesen Schatz zum allerersten Mal hebt, ihn aus dem Pappschuber befreit, einer genauen Inspektion unterzieht und sich sofort in die optische Aufmachen verliebt? Man sieht dieses kreativ gestaltete, glänzende Muster am Einband, fragt sich, wie sich diese schimmernden Elemente dorthin verirrt haben mögen, und hat plötzlich nur noch Augen für dieses ästhetische Spektakel. Und obwohl man so lange hat warten müssen, zögert man dennoch - völlig bewusst - diesen einen ganz speziellen Moment hinaus, wo man es öffnet, erfühlt und schlussendlich zu lesen beginnt, mit der Angst im Hinterkopf, die Reise könnte ganz schnell wieder vorbei sein.

Schlägt man dann auch noch die ersten beiden Seiten auf und einem flattert - vollkommen unverhofft - das Vorwort des Hausgebers in Form einer liebevoll dargebotenen Karte in den Schoß, die mit den Worten „...einem Sonderling gehört schnell meine Sympathie.“ beginnt, dann hat man nicht nur meine ungeteilte Aufmerksamkeit, sondern meine Liebe zum Detail im Sturm erobert.


Genau so erging es mir bei diesem wirklich wundervollen Buch:


𝑫𝒆𝒓 𝒇𝒓𝒆𝒎𝒅𝒆 𝑭𝒆𝒓𝒅𝒊𝒏𝒂𝒏𝒅


Da mein Herz IMMER, IMMER!! für die absoluten Underdogs schlägt und ich weiß, dass ihnen meist kaum bis gar keine Aufmerksamkeit zu Teil wird, bin ich nun überaus erleichtert, dass die beiden Autoren sich ein Herz gefasst und dem ausgestoßenen Grimm-Bruder Ferdinand einen besonderen Platz zur Entfaltung geschafft haben: Um einerseits die ins völlige Abseits geschobene Lebensgeschichte dieses schwarzen Schafes darzulegen, andererseits die notwendige Fläche zu bieten, sodass der Bücher-/Märchen- liebenden Ferdinand Phillip Grimm seine ganz persönlichen Sagen und „Dichtungen“ deponieren kann. Außerdem haben sie ihm dabei geholfen, aus dem Schatten seiner Brüder zu treten und dieses herrschende Aufmerksamkeitsdefitizit - in charmanter Form - auszumerzen.


Aber nicht nur die Tatsache, dass Ferdinand durch diesen Sammelband endlich einen vernünftigen Raum für seinen Background, bzw. eine lautstarke Stimme erhält, spricht für das Autorenduo Boehncke und Sarkowicz, auch das Zollen von Respekt, der liebenswerte Aufbau und die ehrführchtige Sichtweise auf dieses offensichtlich minderwertige Familienmitglied, geben diesem Band den notwendigen Glanz, die essentielle Tiefe und vor allem das Ansehen, das er sich so sehr verdient hat, eingepackt in einen glamouröses Kokon aus Detailverspieltheit.


Es sei an dieser Stelle auch gesagt, dass Ferdinands Chronik keinesfalls hinter jene seiner Brüder zu stellen ist, denn seine authentischen Erlebnisse und Erzählungen sind es - mindestens im gleichen Maße - wert, aufgeschrieben und weitergereicht zu werden. In jeglicher Hinsicht. Egal, ob es die Handlungen selbst betrifft, oder seinen geistreichen Zugang zu zwischenmenschlichen Tönen, oder die Art und Weise, wie er Begegnungen auf literarischer Ebene einfängt.


Fazit:


Während Jacob und Wilhelm (Grimm) damit beschäftigt waren, ihre Märchentexte aus vorhandenen Quellen zu schöpfen, ist der aussortierte Ferdinand losgezogen, hat den Kontakt zum Fußvolk gesucht, Gespräche geführt, sich Geschichten erzählen lassen und hat diese schlussendlich selbst zu Papier gebracht. Dennoch haben die Grimm-Erzählungen der beiden Brüder die Jahrhunderte überdauert und werden auch heute noch gerne ausgeführt, adaptiert und transportiert. Ferdinands Sagen hingegen sind im Laufe der Zeit einfach von der Bildfläche verschwunden. Ein herzliches Dankeschön geht an den Verlag „Die andere Bibliothek“ für die Publizierung dieser wunderschönen Schmuckausgabe und dass sie dem verloren geglaubten Bruder einen Platz im Sortiment freigeräubt haben, denn das hat er sich meiner Meinung nach mehr als verdient!


Inhaltsangabe:


Von den Brüdern Grimm ist viel die Rede. Ihr Bruder Ferdinand, der ein eigenes Werk von Fabeln und Märchen zusammentrug, ist heute vergessen. Als »schwarzes Schaf« der Familie endete er als 55-Jähriger, elend und verlassen.


Nach der kulturhistorisch-philologischen Spurensuche nach Goethes unbekanntem Großvater (Monsieur Göthé, Band 391) nehmen sich Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz die unausgeleuchteten Winkel der Familie Grimm vor. Sie entdecken, nach dem »Malerbruder « Ludwig Emil (Folioband, 2015): Ferdinand, den Unglücksraben der Märchen- und Sagensammlerfamilie.


Ferdinand Grimm (geboren 1790 in Hanau und früh gestorben in Wolfenbüttel) war der bunte Vogel, ein scheckiger Unglücksrabe unter den sechs Geschwistern der Familie. Auf dem Gebiet der Literatur und Volkserzählungen zu reüssieren, war sein Wunsch und Ziel: Er sammelte und publizierte Märchen und Sagen, war ein großer Kenner der Schriftkultur seiner Zeit, schrieb wunderbare Briefe. Doch die »Brüder Grimm« blieben immer nur Jacob und Wilhelm. Ferdinand fehlte nicht nur der unbändige Lern- und Arbeitseifer seiner berühmten Brüder, ihm fehlte immer auch das Geld. Jacob und Wilhelm unterstützten ihn in einer Art repressiver Fürsorge. Sie gaben ihm Geld, aber ständig auch strenge, wenn nicht herablassende Ratschläge.


In seinem unglücklichen, eigenbrötlerischen Leben half er auch seinen Brüdern beim Zusammentragen von Sagen und Märchen. Er war ein umfassend orientierter Sammler, der auch – anders als seine Brüder – zu den Leuten ging und ihnen bei ausgedehnten Wanderungen zuhörte. Seine drei Anthologien veröffentlichte er unter verschiedenen Pseudonymen, wohl, um seinen Brüdern nicht ins Gehege zu kommen. So ist ein immenser, weitgehend unbekannter Schatz entstanden, aus dem in diesem Buch geschöpft wird.


Der neueste Streich des Duos Boehncke und Sarkowicz versammelt Sagen, Märchen, Briefe und andere Texte neben einem ausführlichen biographischen Essay, der dem »fremden Ferdinand« endlich Gerechtigkeit widerfahren lässt: Denn Ferdinand Philipp Grimm, der am Ende seines Lebens in die Bibliotheksstadt Wolfenbüttel gezogen war, brachte die Nähe der Bücher kein Glück.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0