Rezension: "Carnival“ von Philipp Winkler

Weites Brachland, die Schausteller-Karawanne auf Wanderschaft, Jahrmarkttrubel, Riesenräder, Schießbuden, Freispiele, Hau-den-Lukas, Artisten, Clowns, Feuerschlucker, Rumtreiber, Zelte, Manegen, Theatralik, Popcorn, Zuckerwatte,...


Verdammt!!! Es gibt noch so unzählig viele Begriffe, so viele Attraktionen, Kuriositäten, Figuren, emotionale Momente, Träume,...so viele gute Erinnerungen und Gerüche, die aufkeimen, wenn ich an die mysteriöse Magie einer Kirmes denke. Und Philipp Winkler hat es mit dieser 120-seitigen Sonderausgabe - anlässlich des 75sten Verlagsjubiläums  - geschafft, den Mythos der Gaukelei auferstehen zu lassen, Gallionsfiguren ans Tageslicht zu fördern, die Liebe zum Detail zu entfachen und den Geist der Rummelplätze einzufangen. Aber Vorsicht: Winkler spielt nicht immer nur den prosaischen, zuvorkommenden Optimisten, denn zu häufig geht er mit DER geschäftstreibenden Kraft - dem Publikum - hart ins Gericht, tituliert die Zuschauer und lässt durchscheinen, dass mit steigendem Humor, auch die Bereitschaft zur Respektlosigkeit größer wird.


Meine persönliche Meinung: So schön, so bildhaft, so prahlerisch, aber auch demütig, andächtig, wie verträumt, kurz: so aufrichtig hat noch niemand über dieses Wandervolk berichtet. Er (ver)schafft einen ganz persönlichen, authentischen Eindruck, lässt hinter die oftmals bröckelnde Fassade blicken und weiß, dass unter jeder Maske, hinter jedem Trick, hinter jeder noch so aufpolierten Visage, ein ernstzunehmender Kern wartet. Fast so, als würde man die verborgene Ebene, die strapazierfähige Hautschicht freilegen, zusammenhaltendes Gewebe beiseite schieben, damit das Herzstück an die frische Luft gelangen kann. Eine erwärmende, in allen Belangen hinreißende „(Liebes-)Erklärung“ an die Schaustellerei, an die Varietékünstler, die Akrobaten und Artisten, an die Kunstfiguren und Tagelöhner, an die Verlorenen und Haltsuchenden, Statisten und Systemerhalter,...nicht zuletzt an die fleißigen Zauberer, Bauchredner, Jongleure, Turner und Equilibristen. Einfach herrlich.


Doch am meisten fasziniert war ich von der Art und Weise wie Philipp Winkler seine Sätze formuliert/aufbaut: Mit Charme, Witz, übermäßig pathetisch, bedeutsam, ehrlich und zuoberst leidenschaftlich. (Egal ob im schön fabulierenden Sinne, oder einfach nur abgenutzt und rotzig.)


„Die Kirmes war ein Ort der Wiedergeburt. Viele, die an der Stirn das Areal betraten, kamen am Ende eines langen heißen Sommertags verändert wieder heraus. Zwei Kilo schwerer, mit Remoulade und Schlagsahne in den Mundwinkeln. Beseelt vom Ausblick aus dem Riesenrad, wenn die Gondel am Scheitelpunkt angelangt war und man das eigene Haus oder die Kirchturmspitze sehen konnte. Wenn man den vereinzelten Wolkenskeletten und der prallen Sonne am Himmel so nah war wie noch nie zuvor und nie wieder danach. Wenn man seinen ganzen Wochenlohn an den Schießständen, den Fressbuden und am Tunktank gelassen hatte und sich schwor, dass einem das im nächsten Jahr nicht nochmal passieren würde. Und im nächsten Jahr, wenn die Kirmes wieder in der Stadt war, passierte natürlich das Gleiche.“


Also besser kannst du die Ästhetik und die Attraktivität einer Kirmes nicht in Worte fassen!


Von meiner Seite gibt es eine ganz, ganz, ganz, ganz klare Empfehlung!!!


Inhaltsangabe:


Nach dem Sensationsdebüt HOOL folgt CARNIVAL: ein Gesang aus der Welt der Schausteller und Freaks 


In seinem gefeierten Debütroman »Hool« hat Philipp Winkler Menschen eine Sprache gegeben, die keine haben: Heiko Kolbe und seinen Blutsbrüdern, den Hooligans. Nun spinnt Winkler diese Idee fort. Sein Erzähler beschwört einen Reigen der Träumer und Traurigen, der Unerschütterlichen und Unverstandenen herauf: das Personal eines über das Land ziehenden Wanderjahrmarkts. Er lässt sie hoffen und verzweifeln, schimpfen und fabulieren, lästern und schwärmen. In einer ganz eigenen, nie gehörten, singenden Sprache eröffnet uns Philipp Winkler einen Einblick in ein Universum, das - ganz wie unsere süßesten Träume von früher - aus Riesenrädern, Zuckerwatte und ein bisschen dreckigem Feenstaub besteht.


Pressestimmen:


»Winklers meisterhaft dem Geräuschgebrodel einer Kirmes abgelauschte Prosastimme muss nach den Monaten des erzwungenen Stillstands wie ein Requiem auf diese ganze Branche klingen.« (Andreas Platthaus Frankfurter Allgemeine Zeitung 2020-07-11)

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