Rezension: "Das Geschenk des Lebens“ von Sarah Leipciger

Wenn eine Selbstmörderin über ihre Memoiren erzählt, von ihrem Leidensweg spricht und über den eigenen qualvollen Tod berichtet, dann ist das nicht nur tragisch, emotional, überaus bemitleidenswert und fühlt sich sentimental an, es ist zudem auch noch völlig unlogisch. Denn wie bitteschön soll es einer Leiche möglich sein, hinterher den Mord zu schildern, wenn sie doch schon tot ist?

Oder über Geschehnisse monologisieren, wenn sie als aufgeblähter Wasserleichnam in der Seine treibt? Geht nicht, gibt‘s nicht.

Jetzt kommt aber der springende Punkt:

Sarah Leipciger hat sich eben jenes höchst unkonventionelle Stilmittel ausgesucht, sie hat ihre Figur leiden, sterben und hinterher - völlig frei jeder Logik - erzählen lassen. Und genau das hat mich so sehr fasziniert, hat mich derart aus der Bahn geworfen, sodass es keinerlei Ausschmückungen mehr gebraucht hätte, um meine vollste Aufmerksamkeit zu erlangen.

Ein beeindruckender, imposanter, vor allem mutiger Weg, um der Geschichte Tiefe zu verleihen und die Qualität der Charakterisierung auf ein völlig neues Level anzuheben. Denn: Durch diese besondere Form der Ich-Erzählperspektive, eröffnen sich der Autorin ungeahnte Möglichkeiten, die Protagonistin zu platzieren, ihr eine besondere Persönlichkeit zu geben, sie weiterzuentwickeln und ihr eine rätselhafte Eleganz zu verleihen. All das hat Sarah Leipciger nicht nur versucht, sondern in allerbester Manier zu 100% umgesetzt.

Dafür schon mal alle Daumen nach oben!


Was die Story anbelangt, so muss ich meine Lobeshymne fortsetzen: Auch hier hat sie ganze Arbeit geleistet. Sie trägt wahre Begebenheiten zusammen, lässt sie neben fiktionalen Komponenten existieren und weiß zudem, wie sie das Interesse der Leser und das Niveau der Story konstant hochhalten muss. Außerdem findet sie genügend (realen) Zündstoff, um eine verdammt unterhaltsame Erzählung zu entwickeln, und findet zudem auch noch die passende Balance zwischen Fakt und Fiktion. Es lassen sich zudem auch noch viele Ansichtspunkte festmachen, die aus mehreren, unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet werden, und somit für Vielfalt und Rundumsicht sorgen.


Nicht zu vergessen den prosagetränkten, besonders hochwertigen Schreibstil der Autorin, der überaus aufpoliert, aber niemals aufdringlich, authentisch, aber nicht langwierig, pathetisch, und dennoch nicht kitschig wirkt. Es ist einfach wunderbar zu spüren, wenn sich eine Autorin/ein Autor Mühe gibt, mit viel Leidenschaft an die Sache rangeht und etwas zum Leben erweckt, das möglicherweise für sehr lange Zeit in einer Schreibtischschublade gelebt hat.


Also: Was soll man dazu noch sagen? Sarah Leipciger besitzt ein wahrhaftiges und extrem ehrliches, bodenständiges Talent zum Schreiben, das man sich unbedingt bewahren sollte, das man pflegen und in den - hoffentlich noch folgenden - Romanen umsetzen muss. Wenn Sie das schaffen kann, dann steht einer vorzeigbaren Karriere nichts mehr im Weg.


„Angeblich schwitzte und schiss und kotzte und blutete sie, bis ihr Körper nichts mehr hergab. Am Ende habe mich die Hebamme an den Füßen herausgezogen, ich kam also mit dem Hintern zuerst auf die Welt und riss ihr dabei die Blüte bis zur Rosette auf.“


Eines meiner absoluten Highlights bislang!


Inhaltsangabe:


Paris, 1899: Die Leiche einer jungen Frau wird aus der Seine gezogen. Ihr Gesichtsausdruck ist so rätselhaft und friedlich, dass man eine Totenmaske anfertigt, deren Lächeln bald die ganze Stadt kennt. Sarah Leipciger gibt dieser wahren Geschichte neues Leben und lässt die Unbekannte erzählen: von ihrer Kindheit in der Provinz, ihrer ersten eigenen Arbeit in der Großstadt und von einer enttäuschten Liebe.

Die Spuren der jungen Frau reichen bis nach Norwegen in das Jahr 1959, wo ein Vater seinen kleinen Sohn an einen reißenden Fluss verliert und Jahre später jene Puppe entwickelt, an der man heute die Mund-zu-Mund-Beatmung lernt. Die Spur führt auch nach Kanada in die Gegenwart, wo Anouk nach einer Lungentransplantation den ersten freien Atemzug nimmt. Dieses Buch ist eine großartige Feier des Lebens!

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