Rezension: "Das Erbe“ von R. R. Sul

„Tief durchatmen“, das ist die Devise.

Ganz klar, denn die emotionale Achterbahnfahrt, die der anonymisierte Autor hier für den Leser vorgesehen hat, trifft wahrlich ins Schwarze. Hier werden Wörter/Sätze nicht etwa dazu verschwendet, dem Publikum eine literarische Scheinwelt vorzugaukeln, sondern den realen Kern des Bösen aufs Silbertablett zu hieven. Bewusst. Gekonnt. Eingehend.


Und wo liegt - wie schon so oft - der Ursprung allen Übels? Richtig, in der eigenen verkorksten Kindheit.

Dort, wo die Persönlichkeitsbildung ihren Lauf nimmt, dort, wo Kinder als Marionettenbaukasten fungieren, dort, wo Entscheidungen schwer wiegen, dort, wo Elternteile als gnadenlose Scharfrichter auftreten, wo jedes Wort, jede Handlung, jeder Richtungswechsel Verantwortung trägt, genau dort, wo Ursache und Wirkung erstmalig mit voller Wucht aufeinanderprallen.


Bloß Übertreibung? Sinnfreies Geschwafel?


R. R. Sul ist da anderer Meinung, denn mit seinem Titel „Das Erbe“ beweist er eindrucksvoll, wie bitterböse, wie manipulativ unsere Gesellschaft konstruiert ist, wie verwerflich es sein kann, Vorbilder zu haben, wie verletzlich und hilflos der Mensch in dieses Leben geboren wird, wie irritierend Kindheit sein muss, und das völlig falsch interpretierte Moralvorstellungen für eine solide Zukunft tödlich sein können. Das eigene zerstörte Leben verlangt nach kaltblütigen Südenböcken: Mutter und Vater.


Um ehrlich zu sein, hat mich diese Geschichte komplett aus der Bahn geworfen. Sie hat mich - völlig unerwartet - mit voller Wucht getroffen und mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Eiskalt. Kompromisslos.

Es ist wahrscheinlich diese starke Mischung aus ehrlicher, authentischer, bodenständiger Schreibe und dramaturgischer Erzählweise, die der Story enorm viel Gutes tut. Hinzukommt, dass der Autor ein verdammt geschultes Auge für die Charakterisierung der Figuren beweist, bzw. viel Feingefühl für die Weiterentwicklung seines Protagonisten aufbringt. Abgerundet wird das Ganze mit einem (dezent eingesetzten) lakonischen Schriftbild, das dem Leser dabei behilflich sein soll, die kurzen, knappen Sätze in ihrer Einfachheit besser zu begreifen.


Fazit:


Wer ist R. R. Sul? Diese berechtigte Frage hat sich mir im Laufe der Geschichte des Öfteren gestellt.

Auch wenn sich der Autor bedeckt hält, wenn er anonym bleiben will, so muss man ihm ein großes Kompliment zusprechen, denn mit diesem Titel, hat er etwas ganz Außergewöhnliches geschaffen:

Ein emotionales Gefühlschaos, ein strukturiertes, im Detail beleuchtetes Selbstportrait einer introvertierten, bemitleidenswerten Figur, das zwar durch die sprachliche Ausführung schnell greifbar wird, die Moral der Erzählung aber dennoch - bewusst - im Verborgenem lässt.

Solange, bis man dem unausweichlichen Höhepunkt entgegensteuert: Dem innerlichen, wie äußerlichen Zerfall der eigenen Persönlichkeit!


„Mit mir würde sich keiner anlegen. Vater nie kennengelernt, Mutter Selbstmord, Bruder weggenommen, Großvater Herzinfarkt, tot - ich ganz allein. Zu allem fähig. Das zog. Das brachte Respekt ein. Und Mitleid. Eine unschlagbare Kombination.“


Inhaltsangabe:


»Ich war sieben, als ich einen Helm bekam, der mich vor der Sonne schützte. Davor lebte ich nur in der Nacht.«


Was wird aus einem Menschen, dem von klein auf eingeflüstert wird, er sei unheilbar krank? Als Kind schlief Wolf tagsüber, nachts war er wach. Die Wohnung durfte er nur mit einem Motorradhelm verlassen – er habe die Mondscheinkrankheit, behauptete die Mutter. Als ein Arzt ihre Lüge aufdeckt, bringt sie sich um. Heute, als Erwachsener, lebt Wolf zurückgezogen in seiner Wohnung, die Wände verkleidet mit Puzzles. Ein Mann taucht auf, der sagt, er sei sein Bruder. Freddy wirkt rätselhaft auf Wolf, ein Mensch ohne moralischen Kompass, trotzdem nimmt Wolf sich seiner an. Und wird erneut hineingezogen in einen bedrohlichen Kampf um die Wahrheit seines eigenen Lebens. Rau, dunkel schillernd und soghaft erzählt ›Das Erbe‹ vom Vermächtnis einer zerstörerischen Familie.

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