Rezension: "Nach mir die Flut“ von Sarah Perry

Es gibt Autoren, die solch großartige Protagonisten erschaffen können, dass sie eigentlich ins Museum gehörten. Es gibt Autoren, die aus dem schriftstellerischen Nichts, aus einem anfänglich harmlosen Plot, großartige Handlungen entstehen lassen können. Es gibt Autoren, die aus der Normalität auszubrechen versuchen, indem sie eigenwillige, selbstredende Konzepte vorlegen und ihre Stilrichtungen, sowie sprachlichen Ausführungen ohne Kompromisse durchziehen. Es gibt jene Autoren, die Genre-Grenzgänger sind, und ihre Werke auf einer meist unsichtbaren Linie balancieren lassen. Es gibt auch jene Sorte Autoren, die ihren Charakteren schreckliche Dinge, grausame Schicksale, ausweglose Geschehnisse zumuten und ihnen mehr abverlangen, als eigentlich nötig.


Was soll ich sagen: Und dann gibt es da noch dieses eigenwillige Talent, diese Sarah Perry, die all die oben angeführten Komponenten zu verbinden versucht und in ihren sonderbaren Debütroman hat einfließenlassen lassen.


Von Beginn an bleibt uns Lesern eigentlich kaum Zeit zum Durchatmen, wir haben nicht genügend Raum, um die vielen merkwürdigen Gedanken die uns Perry auferlegt, sortieren zu können, dafür treibt die Autorin ihre Story mit einer zu hohen Geschwindigkeit voran. Sie lenkt den Leser, schickt ihn vor sich her, stachelt auf, denkt immer einen Schritt voraus, hat die Überraschungsmomente stets auf ihrer Seite und lässt den Beobachter ahnungslos dahinvegetieren. Genau das macht den unwiederstehlichen Reiz aus, genau so muss es sich anfühlen, wenn man von einer - im besten Sinne - hinterlistigen Erzählerin vollkommen manipuliert und in die Irre geführt wird.

Normalerweise bin ich ein großer Fan von ausgedehnteren Einleitungsphasen. Sarah Perry setz aber auf ein gegenteiliges Konzept und konnte es beim Schreiben anscheind nicht erwarten, ihren Protagonisten in die unwirkliche Einöde, und in das damit verbundene mentale Chaos zu schicken.

Ich persönlich habe dieses Timing, dieses „schnell zum Punkt kommen“ äußerst positiv wahrgenommen, schließlich wurde die Szenerie vorsätzlich herbeigeführt.


Auch die Pressevertreter sehen das ähnlich:


"Nur selten greift man zu einem Roman, der einen von der ersten Seite an in den Bann schlägt. Perrys Debüt ist einer dieser Romane." (Phil Barker, Sunday Times)


"Die kunstvollen und komplexen Charaktere machen diesen Roman wirklich außergewöhnlich." (John Burnside, Guardian)


"Eine wunderbare, traumähnliche Erzählung. Selten begegnen uns solch eindrucksvolle Debütromane." (Sarah Waters)


Fazit:


Äußerst charmant und gleichermaßen verstörend wirkt diese traumähnliche, durch und durch abartige Genre-Mixtur aus „Mystery-Gothic“, und leicht ironischem Familiendrama, gehüllt in eine wunderbar leichte, und gleichzeitig anspruchsvolle, eindringliche Sprache, veredelt, mit einem gesunden Schuss Poesie.

Was den Protagonisten betrifft: Sarah Perry verhängt ihrem Schützling - nach der ca. zehnseitigen Einstiegsphase - die Höchststrafe, verbannt ihn - unter dem Vorwand einer Autopanne - in die Skurrilität und lässt die scheinbar schrägsten Nebencharaktere auftauchen, die natürlich immer mehr wissen als sie eigentlich wissen sollten. 

Doch das Unterhaltsamste an der ganzen Geschichte ist die Tatsache, dass die Autorin über die gesamte Handlung eine Art Geheimnis/Mysterium gestülpt hat, das es - seitens der Leser - unbedingt zu entschlüsselt gilt. DAS würde ich als die zentrale Besonderheit des Romans ausmachen, quasi die Kombination aus Unwissenheit und dem Verlangen nach Aufklärung, geben dem Debütroman „Nach mir die Flut“ das gewisse Etwas.


Bei all den vielen Lobeshymnen muss aber auch Platz für kritische Worte sein: So sind mir beispielsweise die Nebencharaktere viel zu wenig ausgearbeitet gewesen, sodass ich mich beim Lesen sehr häufig dabei ertappt habe, alle handelnden Personen durcheinander zu bringen. Obwohl Sarah Perry  ein beachtliches Tempo an den Tag legt, in ihrem Roman viele Handlungskomponenten unterbringen wollte, trabt die Geschichte dennoch auf der Stelle und bewegt sich kaum vorwärst. Man hat das Gefühl, dass einem ständig derselbe Storyverlauf vorgespielt wird. Außerdem: Warum der Protagonist seine prekäre Situation nicht so wirklich zu hinterfragen versucht, bleibt ebenso Perrys Geheimnis.

 

Inhaltsangabe:


Der lang erwartete Debütroman von Sarah Perry, Autorin des Bestsellers Die Schlange von Essex.


An einem heißen Sommertag beschließt John Cole sein Leben hinter sich zu lassen. 

Er sperrt seinen Buchladen zu, den nie jemand besuchte, und verlässt London. Nach einer Autopanne sucht er Hilfe, verirrt sich und gelangt zu einem herrschaftlichen, aber heruntergekommenen Anwesen. 

Dessen Bewohner empfangen ihn mit offenen Armen - aber hinter der seltsamen Wohngemeinschaft steckt ein Geheimnis. Sie alle kennen seinen Namen, haben ein Zimmer für ihn vorbereitet und beteuern, schon die ganze Zeit auf ihn gewartet zu haben. 


Wer sind diese Menschen? 

Und was haben sie mit John vor? 


Nach mir die Flut ist der eindringliche Debütroman von Sarah Perry. Betörend schön, unheimlich und psychologisch raffiniert. Ein elegant-düsteres Kammerspiel.

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